Mehr Klarheit finden, in einer Welt der Mehrdeutigkeiten?!

„Ich weiß, dass ich nicht weiß“ Dieses Zitat von Sokrates beschreibt das Dilemma, in dem heute Führungskräfte stehen: Ihr Wissen ist nicht über jedem Zweifel erhaben und was wir heute meinen zu Wissen, kann morgen schon wieder überholt sein oder durch neu gewonnene Informationen eine Situation wieder anders darstellen. Die fehlende Transparenz kann dazu führen, dass (falsche) Hypothesen aufgestellt werden oder Dilemmata entstehen, die scheinbar nicht auflösbar sind. Bisher hat man in solchen Fällen sich mehr Informationen eingeholt und daraus seine Schlussfolgerungen gezogen. Dies funktioniert heute nicht mehr, da ein Meer an Informationen zur Verfügung steht und es zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, die relevanten Informationen zu identifizieren und zu filtern. Die Vielzahl an Informationen hat auch zur Folge, dass eine Situation sehr viele Deutungsmöglichkeiten hat. Hinzu kommt die steigende Komplexität die ebenfalls keine eindeutigen Vorhersagen ermöglichen. Die Zunehmende Komplexität erfordert es, das unterschiedliche Experten im Unternehmen und über die Unternehmensgrenzen hinaus vernetzt sind und ihre Informationen und ihren Wissenstand austauschen. Selbst dann können im Nachhinein noch Erkenntnisse auftreten, die eine andere Entscheidung nachvollziehbarer gemacht hätte oder sogar für effektiver gehalten wird. Die schöne Volksweisheit: „Im Nachhinein ist man immer schlauer“ bringt es auf den Punkt.


Viele Führungskräfte stehen also vor der Herausforderung, obwohl sie wissen, dass ihre Entscheidungsgrundlagen Lücken haben oder die Konsequenzen unklar sind, Entscheidungen an ihre Mitarbeiter oder an ihre Vorgesetzte zu „verkaufen“. Das Risiko des Scheiterns ist größer geworden.

Auch die Erwartungshaltungen an eine Führungskraft sind sehr unterschiedliche, so dass die Führungskraft eine Rollenambiguität erfährt, da sie unterschiedlichen Interessen und Erwartungen gerecht werden muss, die sich zum Teil widersprechen. Ein klassisches Beispiel ist das richtige Maß an Nähe und Distanz zwischen Führungskraft und Mitarbeiter zu finden. Wieviel Unterstützung gebe ich meinen Mitarbeitern ohne sie auf der einen Seite im Stich zu lassen, auf der anderen Seite ihnen das richtige Maß an Eigenverantwortung zu überlassen? Das ist nicht neu, neu ist jedoch, dass sich die Anforderungen und Erwartungen an die Führungskraft verändern. Es geht immer wieder darum für Mitarbeiterzufriedenheit zu sorgen, die Arbeitsbedingungen zu optimieren. Doch ein junger Mitarbeiter versteht heute etwas völlig anderes unter guten Arbeitsbedingungen wie ein älterer. Nicht umsonst werden Mitarbeiter heute in Generationen unterteilt, da die Bedürfnisse sich über die Generationen und Lebensphasen verändern.

Es gibt also viele Ursachen, wieso wir unsere Welt heute ambivalent wahrnehmen. Die Auswirkung dieses Phänomens ist, dass Führungskräfte unter großer Unsicherheit Entscheidungen treffen müssen und sich häufiger für ihre Entscheidungen im Nachhinein rechtfertigen müssen. Was manchmal zu einer großen Erklärungsnot führt, da wie oben beschrieben nicht immer alles vorhersehbar ist oder alle Informationen vorliegen. Wenn dann noch eine Kultur der Schuldzuweisungen und Fehlersuche bei den Menschen im Unternehmen herrscht, dann schafft dies ein Klima aus Befürchtungen, Angst und Unsicherheit und es werden Entscheidungen nur nach mehrfacher Rücksprache und Absicherung getroffen oder gar nicht mehr. Keine guten Voraussetzungen für ein Team, dass innovativ, kreativ und sich weiterentwickeln soll.

 

Was können Führungskräfte in einem Umfeld mit hoher Ambiguität tun?

Die große Kunst beim Umgang mit Ambiguität ist, dass Führungskräfte lernen müssen zu akzeptieren, dass es nicht zu allen Themen eine eindeutige Antwort gibt und sie diese wahrscheinlich auch mit größter Anstrengung nicht finden werden. Dazu braucht es Reflektion, wie gehe ich mit diesen Mehrdeutigkeiten um, was kann ich gut aushalten, was fällt mir schwer? Was ist daran so wichtig, dass ich eine eindeutige Antwort erhalte? Was für eine Bedeutung hat das Thema für mich? Was steht auf dem Spiel für mich? Und was für ein Bild von mir als Führungskraft habe ich? Hier zeigt sich wieder, dass es heute in der Tat nicht nur gefühlt, sondern real ein neues Führungsverständnis Einzug in das Management hält. Führungskräfte brauchen den Mut, auch mal Schwächen und Unwissenheit auszuhalten und dieses vor ihrem Team zuzugeben. Das sagen auch alle Führungskräfte immer wieder in meinen Seminaren. Doch wenn wir dann konkrete Gespräch – Situationen üben, dann spüren sie von ganz alleine, wo ihre persönlichen Blockaden und Grenzen sind. Und genau hier beginnt die Reflektion über das eigene Führungsverständnis Realität zu werden und die Möglichkeit neue Strategien auszuprobieren. Im Training und Coaching passiert dies in einem geschützten Rahmen, in dem noch nicht konkret Konsequenzen spürbar werden. Doch als Führungskraft erhalte ich Resonanz von den anderen Teilnehmern oder dem Coach, so dass die Führungskraft selbst sehen kann, wie es sich für sie anfühlt, die eigenen Grenzen zu überschreiten und aus der eigenen Komfortzone herauszutreten und in die Zone des Lernens sich hineinzubegeben.

Und doch gibt es auch etwas Aktiveres zu tun als „nur“ zu reflektieren und ein neues Führungsverständnis aufzubauen. Gerade wenn es um Entscheidungen geht und die zur Verfügung stehenden Informationen zu Mehrdeutigkeiten führen, ist es wichtig sich die Meinungen und das Wissen der Betroffenen und auch externer einzuholen, um so sogenannte Hidden Profils aufzudecken und zu der best möglichen Entscheidung zu kommen (die dennoch nicht die beste Entscheidung sein muss).

Dazu ist es hilfreich, Meetings anzusetzen, in denen möglichst alle offen ihre Meinungen und ihr Wissen zu Verfügung stellen, auch wenn es scheinbar wenig Relevanz hat. Dazu braucht es Vertrauen, damit das Team auch offen seine Meinung äußert. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass trotz aller Bemühungen um Vertrauen durch die Führungskraft, dennoch die Kollegen sich sehr von der Meinung der Führungskraft in ihrer eigenen Meinung beeinflussen lassen. Studien und Versuche belegen dies. Deshalb ist es wichtig, dass vor und in einem solchen Meeting, die Führungskraft zunächst der neutrale Moderator ist, damit jeder zunächst möglichst unabhängig seine Meinung äußert. In einem Unternehmen, in dem ich gearbeitet habe, hatten wir die Devise: „Solange keine Entscheidung getroffen wurde, ist jeder verpflichtet seine persönliche Meinung und sein Wissen zur Verfügung zu stellen.“ Das hat eine rege Diskussionskultur gefördert, die mit Sicherheit nicht immer einfach für unseren Vorgesetzten war und auch Zeit gekostet hat. Doch im Nachhinein haben wir viel Zeit und Mühe gespart, wenn es an die Umsetzung ging. Ich kann mich an eine Runde erinnern, da waren wir alle nicht so gut drauf und haben uns gegenseitig regelrecht in eine Negativ-Spirale hineingeredet. Zum Glück hatte unser Chef eine gute Idee, die es ihm ermöglichte neutral zu bleiben und unseren Tunnelblick zu öffnen: Er stellte mitten auf dem Besprechungstisch ein halb gefülltes Glas Wasser und fragte uns, wie das Glas gefüllt sei? Halb leer oder halb voll. Keiner wollte halb leer sagen, wir wussten aber dass das gerade unser Denken beherrschte. Damit war der Weg offen für uns wieder unseren Blick auf das Thema zu öffnen und wir konnten für unsere Bedenken Lösungen finden und zu einer Entscheidung finden. Wichtig war, dass unsere Führungskraft am Ende sich bei uns für alle kritischen Beiträge bedankte, die sehr wichtig waren, um auch Maßnahmen für den worst case zu entwickeln und wir dadurch auch gleich einen Vorgeschmack hatten, welche Widerstände wir bei unseren Mitarbeitern erwarten konnten. Und genau das half uns dann auch, die Entscheidung glaubwürdig an unsere Mitarbeiter zu kommunizieren und gleichzeitig empathisch mit ihren Befürchtungen umzugehen, da es uns ja ähnlich erging.

Eine Kultur in der Dissens bei der Entscheidungsfindung erwünscht ist, ist also förderlich um die best möglichen Entscheidung zu treffen, da verborgene Informationen, Emotionen, Befürchtungen, Ängste und Hoffnungen offen gelegt werden, die eine breitere Entscheidungsbasis jenseits von harten Fakten ermöglicht. Dies ist gerade in Veränderungsprozessen so wertvoll, dass zurecht immer wieder der zugegebenermaßen fast schon abgedroschene Spruch: Betroffene zu Beteiligte zu machen weiterhin seine Gültigkeit behält.

Dissens in der Umsetzungsphase ist allerdings eher hinderlich, da hier die Umsetzungszeit verzögert wird und ein Vorhaben noch scheitern kann. Für Führungskräfte besteht hierin die Herausforderung zu unterscheiden, welche Einwände relevant sind, um das Chang-Projekt voranzubringen und welche Einwände unbegründete Befürchtungen und Ängste sind.

Für Führungskräfte wird es wichtiger werden sowohl die eigene Ambiguitätstoleranz als auch die der Mitarbeiter zu erhöhen, um in einem VUCA gewordenen Umfeld positiv und motiviert agieren zu können.

Inspiriert durch:

https://www.psychologie.hu-berlin.de/de/prof/org/download/klocke2012_3

Organsiationsentwicklung, 4/15: Komplexität kultivieren – Das VUCA Paradigma im Management

 

Letzte Änderung am Sonntag, 15 November 2020 15:32
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